Kaum denkt man an Urlaub, Frieden, Ruhe und Pause, da setzt sich die Treibjagd auf das Regierungsamt fort und gerät wieder in Bewegung. Der Wählermarkt ist unbahmherzig. Zwar reicht es noch nicht für eine mögliche Rot-Grüne Alleinregierung. Aber es sind nur noch wenige Millimeter, die beide davon trennen. Alternativ wäre auch das bunte Jamaika möglich. Doch das verbietet sich wohl noch auf Bundesebene. Die Schwarz-Gelbe Regierung würde es bei Neuwahlen zum jetzigen Moment wohl nicht mehr geben – der Wähler toleriert den Masochismus von Union und FDP nicht: Die Prognosewerte sind fern von jeglicher Mehrheit.
Sah es in den letzten Wochen noch nach einer Atempause, einem Stillstand oder eventuellen Stimmungswechsel aus, so zeigen die neuesten Zahlen, dass der alte Trend seine Fortsetzung findet. Und der Trend bekommt eine neue Ergänzung, die richtungsentscheidend werden könnte: Die SPD kann offenbar erstmals im Lager der linken Wähler zugewinnen. Parallel dazu haben die Grünen offenbar Möglichkeiten gefunden, potentielle Wähler im Lager der Union zu erobern. Auch junge liberale Wähler der FDP kokettieren mit dem Kreuz bei den Grünen – doch viele potentielle Wähler hat die alte liberale FDP eh nicht mehr. Der Brunnen droht auszutrocknen.
Die Union (31,7% +0,0) kann sich zwar weiter auf niedrigem Niveau stabilisieren. Aber ob die aktuell seit Ende Juni anhaltende Seitwärtsbewegung eine Bodenbildung bedeutet, ist nach wie vor nicht klar und deutlich genug zu erkennen. Es spricht zwar für die Union, dass sie trotz der aktuellen Streitigkeiten diese Ruhepause einlegen konnte, allerdings kann dies auch bedeuten, dass der Markt (die Gruppe der Wähler) abwartet und beobachtet. Eine Art Gnadenfrist. Doch wehe der Reaktion: Wenn Erwartungen enttäuscht werden, kann daraus starke Abneigung erwachsen. Das drohende Drama: Eine Unterstützung unterhalb 31% ist nicht zu erkennen: Das wären historische Tiefstwerte, vor denen die Union sich fürchten sollte.
Warnung der CDU: Angriffe auf zu Guttenberg
Mit Sicherheit wird der Markt genau in Augenschein nehmen, was in der Sommerpause passiert. Wer wagt sich aus der Deckung und wer kommt zur Unterstützung herbei. Aktuell wird aber in der Union nicht direkt auf Angela Merkel geschossen, sondern auf Verteidigungsminister Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg. Der Anlass dazu ist die Abschaffung oder Umwandlung der Wehrplicht. Jene gesetzlich verankerte Zwangsverpflichtung junger Menschen, die sie in die missliche Lage versetzt, an von Politikern geplante Kriegseinsätze unter möglichen Verlust von Leib und Leben teilzunehmen. Der Saarländer Peter Müller sieht in der Wehrpflicht gar ein Stück Identität der Union. Peter Müllers mögliche Identitätsprobleme könnten die Verluste in dem vergangenen Prognosen erklären.
Direkte und indirekte Angriffe auf zu Guttenberg haben ihren Grund und dahinter steckt ein System: Merkel kann als Cheffin den Laden nicht mehr wirklich disziplinieren. Sie büsst an Respekt ein. Also lässt sie nun ihre Kettenhunde los und lässt jene mit Dreck werfen. Aus Sicht der CDU will man klar signalisieren, dass man dazu bereit ist, das Image eines zu Guttenberg zu beschädigen, wenn die CSU Angriffe auf Merkel plant. Für die CDU ist Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg natürlich in doppelter Hinsicht ein Ziel: Zum einen droht die CDU eben mit der Beschädigung seines Images, falls die CSU Merkel ins Fadenkreuz nimmt. Zum anderen ist Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg natürlich einer der aussichtsreichsten Kandidaten für mögliche Nachfolgeschaften hochstehender Positionen in der Zukunft. Merke: Kandidaten werden noch nicht ins Rennen gebracht, aber mögliche Kandidaten werden bereits unter Beschuss genommen. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Union erkennt, dass es zu vorzeitigen Neuwahlen kommen könnte?
Aber es gibt auch amüsante Stilblüten in dieser Geschichte. Sonst unscheinbar agierende Menschen fühlen sich berufen, ihre Stimme zu erheben. Ein Beispiel: Die ansonsten völlig unbekannte Ministerpräsidentin Thüringens Christine Lieberknecht läßt sich gar dazu verführen, in diesen Angriff mit sinnentleerten Sprüchen teilzunehmen und die Bundeswehr als Teil der Familie zu sehen:
„Unsere Bundeswehr ist eine Armee der Söhne und Töchter. Die Verankerung in der Bevölkerung ist ein hohes Gut“ … „Deswegen bin ich für eine Beibehaltung der Wehrpflicht.“
(Zitat: Christine Lieberknecht gegenüber dem SPIEGEL vom 24.06.2010)
Zumindest haben die Gefallenen in den aktuellen Konflikten in den Familien Lücken bei Söhnen und Töchtern hinterlassen. Wie eine evangelische Theologin zu solchen Erkenntnissen gelangt, bleibt uns wohl ein Rätsel. Es hört sich sehr konstruiert an und mag von anderen CDU-Politikern vorbereitet worden sein. Suchte man sich etwas für die Angriffe unbekannte Menschen aus der zweiten Reihe aus und gab ihnen zweideutige Sprüche mit? Dass der bayerische Innenminister Joachim Herrmann der CDU mit seiner Kritik an der Wehrpflicht dabei Unterstützung liefert, mag zweierlei Gründe haben: Mag sein, dass er einen parteiinternen Konkurrenten kleiner machen will. Doch wollen wir ihm nichts böses unterstellen. Der Grund mag vielleicht nur ganz banal sein: Eine unbedachte Äußerung statt dass man in der Partei für diesen Fall strategisches Vorgehen plant.
Sozis gewinnen auf der linken Seite
Der SPD (29,5% +0,5) scheint nun endlich das zu gelingen, was die Analyse des Clubs immer wieder empfohlen hat: Die Sozialdemokraten räubern erste Stimmen im linken Lager. Offenbar wird den linken Wählern langsam klar, dass ihre Stimme nur dann Wirkung hat, wenn sie potentielle Regierungskandidaten unterstützen. Die Chance der SPD, wieder 30% zu erreichen und zu durchbrechen sind so gestiegen. Charttechnisch ist der Aufstieg der SPD weiterhin eine klare gerade Linie nach oben. So gesehen gibt es auch aus dem Chart heraus dafür eine Unterstützung. Doch der Markt agiert nicht auf Grund eines Charts. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die SPD die für sie psychologisch enorm wichtige 30%-Marke reißen wird und dann auch halten kann.
Grüne Höhenluft ohne Beispiel
Die Grünen (16,7% +0,3) sind ähnlich stark wie die Sozialdemokraten und bewegen sich in Richtung 17%-Marke. Aber ob das eine wichtige Marke ist, kann nicht gesagt werden: Die Grünen waren noch nie in dieser Region – sie schnuppern schon seit Monaten unbekannte Höhenluft. Eine Analyse der Zahlen kann darauf hindeuten, dass die Grünen potentielle Wähler im Lager der Union gewinnen können. Denn: Links räubert die SPD und bei den Liberalen ist nicht mehr viel zu holen.
Es scheinen vor allem potentielle Unionswähler aus der passiven Gruppe zu sein: Sie würden eigentlich Union wählen, wenn sie denn überhaupt wählen würden. Hier könnten die Grünen noch genug Raum finden, um ihre historisch einmaligen Werte mittelfristig zu stabilisieren.
Links: Mögliche Talfahrt
Die Linke ex-SED (10,2% -0,5) gerät nun unter Druck. Offensichtlich ist die SPD wie schon ausgeführt in der Lage, Wähler aus der linken Gruppe zurück zu gewinnen. Dadurch verlieren die Linken an Boden und sacken immer mehr in die Richtung der für sie gefährlichen 10%-Marke. Die Berührung oder das leichte Durchbrechen der Marke alleine ist noch kein klares Signal des Abstiegs. Noch wäre es eine Unterstützungslinie. Dort aber liegt das Entscheidungsfeld: Kann man von dort erneut wie Ende Januar, Mitte März und Anfang Mai nach oben Richtung 11% kommen oder verlässt die Linke die Seitwärtsbewegung nach unten. Die Linke steckt wohlmöglich in einem Dilemma. Die Begründung für das Überlaufen Richtung SPD ist schon genannt worden: Wähler der Linken wissen, dass die Partei kaum eine Chance hat, Teil einer Bundesregierung zu werden. Auch wenn SPD und Grüne die Überwachung der ehemaligen SED durch den Staat ablehnen. Was übrigens wohl eher taktische Gründe haben dürfte: Durch eine Verteufelung der ex-SED kann die SPD diese Wähler nicht gewinnen. Sie würden sich eher noch stärker mit dem vermeintlichen Opfer solidarisieren und verbinden.
Doch wie soll die Linke ex-SED darauf reagieren? Sie will ja eigentlich auch gar nicht regieren. Sie kann es wohl angesichts ihrer Vorschläge kaum. Einen deutlich erkennbaren Finanzierungsplan ihrer Ziele hat sie nicht vorzuweisen. Sie hat einen alternden Lafontaine als ewig gestrige Stimme aus der Gruft des Ruhestandes. Und sie hat einen Gysi aus der Ecke der ex-SED, der schon in Berliner Senat nach 6 Monaten die Verantwortung wieder abgegeben hat. Sie kann darauf nicht reagieren. Jeder potentielle Wähler der Linken, der seiner Stimme einem potentiellen Regierungskandidaten geben will, wird in der Zukunft häufiger überlegen, seine Stimme an die Sozialdemokraten zu geben. Denn: Die SPD ist in den Prognosen sensationell erfolgreich. Und Erfolg macht Sexy – und Wähler aus ähnlichen Lagern möchten da doch eher auf der Seite der Sieger stehen.
Liberal: Ungebremste Katastrophe
Jetzt endlich hat die FDP (5,0% -0,4) die 5%-Hürde geschafft. Leider von der falschen Richtung her: Die Liberalen sind nach wie vor auf ihrer Mission Selbstzerstörung. Zwischen dem was sie laut eigenen Aussagen wollen und dem was sie bisher umsetzen konnten, erkennt man eine große dunkle Lücke. FDP-Generalsekretär Christian Lindner drückt das im deutschen Fernsehen zu morgentlicher Stunde wie folgt aus:
„Offenbar sind die Werte der FDP – marktwirtschaftlich, leistungsorientiert, aber mit Verantwortung; fair und solidarisch, aber nicht gleichmacherisch; umweltorientiert und nachhaltig, aber nicht staatsgläubig – offenbar ist das nicht so rübergekommen.“ … „Es zeigt sich in diesen Tagen: Die FDP ist keine Partei für Leute mit schwachen Nerven. Aber wir müssen gleichwohl die Nerven behalten“
(Zitat: FDP-Generalsekretär Christian Lindner am 23.06.2010 im „Morgenmagazin“ der ARD)
Das ist ein Versuch einer Erklärung, einer Entschuldigung und einer Motivation zugleich. Aber es ist fraglich, ob er damit eine Wirkung erzeugt. Selbst in den eigenen Reihen – jene sollten wohl die Adressaten sein – wird man eher mit Kopfschütteln reagieren. Ist das alles, was die FDP gegen das Durchbrechen der 5%-Hürde nach unten vorzubringen hat? Hat gar Herr Lindner unsere politische Serie über Politik und Marketing missverstanden? Die Gefahr, in dem aktuellen Mehrparteiensystem für lange unter die 5%-Hürde zu geraten ist groß. Das Angebot der Konkurrenz ist üppig. Die Grüne Nachwuchsabteilung kann man schon als liberale Grüne bezeichnen. Kein Wunder, dass Lindner über das Wort „umweltorientiert“ mit dem Bild der grünen Liberalen kokketiern möchte.
Piraten im Stillstand?
Am Schluß folgen wieder die Piraten (2,5% +0,0) mit unverändertem Ergebnis. Die Analyse der letzten Wochen könnte sich bestätigen: Ohne Präsenz in der medialen Öffentlichkeit und außerhalb vom Foren und Chatrooms droht den Piraten der Fahrtwind auszugehen. Die Präsenz der Parteien wird in Richtung möglicher vorzeitiger Neuwahlen zunehmen. Keiner will bei überraschenden Neuwahlen noch in den Startlöchern stehen. So wie bisher werden die Piraten wohlmöglich untergehen im Gewühl und für den potentiellen Wähler unerkannt. Denn die sozialen Kampfthemen eines möglichen vorzeitigen Wahlkampfes würde aktuell durch eine fehlende Programmatik in diesem Bereich an den Freibeutern vollständig vorbeigehen.
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